Im gewaltigen Werk von Jeremias Gotthelf ›Leiden und Freuden eines Schulmeisters‹ geht es um einen Jungen, der in einem schlechten Elternhaus aufwächst, sich der Schule zuwendet und sich im Leben nicht ganz zurechtfindet sowie um die Probleme seines Schulmeister-Daseins. Auf den knapp 740 Seiten schildert der Schulmeister sein ganzes Leben bis anhin, wobei wie so typisch für Gotthelf fast keine Details weggelassen werden. Das Buch gefällt mir sehr und ich empfehle es jedem zu lesen, der ein wenig Durchhaltevermögen besitzt, was bei der ganzen Länge und den langwierigen Ausführungen zweifelsohne vonnöten ist.
Der Protagonist ist mir aber, so sehr ich es bedaure, gehörig unsympathisch. Meiner Antipathie ihm gegenüber soll deshalb in dieser Arbeit nachgegangen werden.
Peter Käser nennt sich die tragende Figur, welcher meine Abneigung gilt. Sein Name ist auch gleich das Erste, was er im ersten Kapitel erwähnt welch’ Egoismus! Grund für meine Antipathie ist dies allein freilich nicht, vielmehr eine Auswirkung der tatsächlichen Ursache: mir missfällt sein Charakter, seine Naivität, die fehlende Voraussicht und (Welt-)Unwissenheit.
Letzteres ist aber durchaus nicht ihm alleine zuzuschreiben, sondern eher vielen Personen aus dem 19. Jahrhundert, befinden sie sich doch in den Anfängen der Aufklärung in der Schweiz und sehen vieles (noch) nicht ein. Zudem waren diese Emmentaler Bergbauern damals nicht eben für schnelle Anpassung an neue Strukturen und Ordnungen bekannt, wie aus den Reden des Pfarrers aus Gytiwyl hervorgeht. Ein Beispiel für die geographische Unwissenheit, für die sture Sesshaftigkeit, möchte ich kurz anfügen: Im Kanton Bern wusste man damals »... drei Stunden voneinander nichts als höchstens dunkle Gerüchte, wie wenn sie aus dem Schnaraffenland kämen. [...] Dem Guggisberger liefen im Seeland die Kinder nach, fragten: ›Ätti, sy Guggisberger o Mönsche?‹ Und wenn der Ätti ihnen sagte: ›Ja!‹ so konnten sie das fast nicht glauben, sondern entgegneten: ›Aber si hey ja keini Hemliskräge!‹«
Da das Buch in der Ich-Form mit Peter Käser als Erzähler geschrieben ist, dürfte mir das Werk als Ganzes eigentlich nicht gefallen, da der Charakter eines Menschen beim Schreiben erkennbar wird und mich dieser ja nicht anspricht. Die Erzählform ist aber glücklicherweise eine Mischung aus einem Ich- und einem allwissenden Erzähler, der mit viel Weisheit und väterlicher Liebe die Torheiten des jungen Schulmeisters kommentiert.
Eine kurze Beschreibung seines Charakters ist nun angebracht:
Der Schulmeister ist stolz, hält sich für »e bsunderbar e Gschickte« und hört infolgedessen gerne von sich reden, er ist begierig nach Lob und Ruhm. Er eilt zu allen, die ihn nur schon ein klein wenig rühmen und vertraut ihnen all seinen Kummer und seine Sorgen an. Er merkt aber immer viel zu spät, dass diese Leute meistens zwei Gesichter haben. Ihm bieten sie ihre Hilfe an, hinter seinem Rücken jedoch mokieren sie sich über ihn. Ja, sie nutzen ihn schamlos aus und ziehen ihm das Geld aus der Tasche. So gerät er in eine immer misslichere Lage und leider auch stets an die falschen ‘Freunde’.
Erhält er aber einmal einen gut gemeinten Rat (z.B. vom Pfarrer), setzt er sich darüber hinweg und meint, er sei doch kein ‘Lump’, der sich andauernd befehlen lassen müsse, was er zu tun habe. Er sieht nicht ein, dass ein Schulmeister in einem Dorf eine spezielle Rolle innehat, und sich entsprechend benehmen muss.
Er fühlt sich also gut und so viel besser als mancher, »wenn er sich an die Brust schlägt und wonniglich ausruft: ›Ih bi doch e n angere Kerli als dä da.‹«
Es wäre aber unrecht ihn wegen seines Wesens anzuprangern, denn dafür kann er nicht sonderlich viel. Analysieren wir folglich seine Erziehung und sein Elternhaus, das wie bereits erwähnt besser hätte sein können:
Der Junge wird in einer Familie geboren, in welcher er vom Vater über alles geliebt und verhätschelt, und aus diesem Grund vom Rest der Familie gehasst wird. Sein Vater erlaubt und gibt ihm alles und möchte in ihm verwirklichen, was er selber nie zustande gebracht; letzteres ist eigentlich ein Phänomen, das bei vielen Eltern zutage tritt. Gotthelf benennt die Situation ‘Kronprinzentum’. Die Mutter und die Schwestern mögen dem Jungen dies aber nicht gönnen und behandeln ihn dementsprechend schlecht. Dieser verrät alles seinem Vater, der wiederum die andern gebührend bestraft. Der Junge wird vom Vater zwar nach Strich und Faden verwöhnt, doch in der Familie wird ihm das Leben zur Qual. Seine Leiden wachsen ins Unermessliche, als sich auch der Vater von ihm abwendet und das ‘Kronprinzentum’ an den zweiten Sohn übergeht.
In diesen ersten Jahren, in denen Peter Käser verwöhnt wird, lernt er quasi, dass er es wert ist gut behandelt zu werden; er fühlt sich besser als andere. Die Bestätigung erhält er vom Vater; bei ihm wird er anerkannt. Als dies nicht mehr der Fall ist, sucht er jemanden, der ihn bewundern könnte, und findet ihn in der Person seines Schulmeisters. So müht er sich für die Schule ab, lernt und lernt, damit er endlich wieder einmal ein Lob zu hören kriegt.
Ich wage zu behaupten, dass fast jeder Mensch verrückt nach Lob und Ansehen ist, sei es in Sachen Schönheit, Können oder Wissen. Bei einigen äussert sich diese Suche stärker, bei andern weniger. Wer sich zuhause nicht recht angenommen fühlt, sucht nach Anerkennung bei Kollegen und Freunden oder beim anderen Geschlecht. So wird enorm viel geleistet und viel Aufwand getrieben, um das Ziel zu erreichen: bei jemandem respektiert und vielleicht sogar beliebt (oder geliebt) zu werden.
Selbstverständlich zeigt sich dieses Sinnen und Trachten nicht bei jedem so deutlich wie in unserem Beispiel. Darum finde ich es auch so abstossend.
Unser Schulmeister hat also Eigenschaften, die viele sonst auch besitzen. Ist dies vielleicht ein Grund, warum ich seine Taten so verabscheue? Weil ich mich teilweise selber in ihm widerspiegelt sehe? Weil ich genau weiss, wie die Geschichte weitergeht, da ich gleich oder ähnlich gehandelt hätte?
Ist es kurz und gut die Selbsterkenntnis, die mir an diesem Buch zu schaffen macht, und die mir es sympathisch und zugleich auch unliebsam werden lässt? Es graut mir davor!
Tatsächlich muss ich bei vielen Textpassagen feststellen, dass ich an seiner Stelle gleich gefühlt hätte, dass ich mich demnach auch ähnlich verhalten hätte. Ich erkenne plötzlich Fehler auch in meinem Leben, weil sie und deren Konsequenzen im Buch aufgezeigt sind.
Für mich ist dieses Buch eine Bereicherung, eine Erfahrung, und daher ist mir das Buch auch so lieb, obgleich ich manchmal wegen dieses an Torheit kaum zu überbietenden Lehrers liebend gerne zu lesen aufgehört hätte.
Wie jedes Übel einmal ein Ende hat, so ändert sich dann im zweiten Teil auch Peter Käser. Er macht einen Neuanfang in einem anderen Dorf und strengt sich an, alte Dummheiten nicht zu wiederholen. Seine Mühe wird schliesslich belohnt: er findet eine liebe, verständige und gottesfürchtige Frau.
Bei ihr findet er nun die lang ersehnte Anerkennung; sie nimmt ihn so an, wie er ist. Er lernt von ihr so manches, dass er seine früheren schlechten Angewohnheiten mit der Zeit ablegt und auch lernt auf Gott zu vertrauen. Ich denke, dass von der Ehe, so wie sie im Buch beschrieben ist, alle Liierten etwas lernen könnten, nämlich, was wahre Liebe und Zuversicht ist.
Die Erfahrung und das Vorbild seiner Frau prägt ihn, und so entwickelt er sich schliesslich positiv. Durch diese Charakter-Änderung wird mir die Hauptfigur zwar erheblich angenehmer, doch eine Aversion besteht weiterhin, ganz im Gegensatz zum neuen Pfarrer und auch dem Jäger, welche weltoffen sind. Sie verfügen nicht nur über gesunden Menschenverstand, sondern auch über eine gute Menschenkenntnis, gewürzt mit einer feinen Prise Humor.
Das Buch weckt für menschliche Schwächen ein gewisses Verständnis. So kommt es mindestens bei mir quasi zu einer ‘Versöhnung’ mit seinem Unvermögen das Leben zu meistern.
Ich wünschte mir, dass Gotthelfs Schriften heutzutage mehr Beachtung fänden, da sie ein grosses Mass an Lebensweisheiten enthalten.