Der Revoluzzer

Erich Mühsam (1878 - 1934)

Gedicht-Interpretation

Autor: Beat Strasser < beat at stradax dot net >
Version: 15.12.1997

Inhalt

Das Gedicht

War einmal ein Revoluzzer,
im Zivilstand Lampenputzer;
ging im Revoluzzerschritt
mit den Revoluzzern mit.

Und er schrie: «Ich revolüzze!»
Und die Revoluzzermütze
schob er auf das linke Ohr,
kam sich höchst gefährlich vor.

Doch die Revoluzzer schritten
mitten in der Strassen Mitten,
wo er sonsten unverdrutzt
alle Gaslaternen putzt.

Sie vom Boden zu entfernen
rupfte man die Gaslaternen
aus dem Strassenpflaster aus,
zwecks des Barrikadenbaus.

Aber unser Revoluzzer
schrie: «Ich bin der Lampenputzer
dieses guten Leuchtelichts.
Bitte, bitte, tut ihm nichts!

Wenn wir ihn' das Licht ausdrehen,
kann kein Bürger nichts mehr sehen.
Lasst die Lampen stehn, ich bitt! –
Denn sonst spiel ich nicht mehr mit.»

Doch die Revoluzzer lachten,
und die Gaslaternen krachten,
und der Lampenputzer schlich
fort und weinte bitterlich.

Dann ist er zu Haus geblieben
und hat dort ein Buch geschrieben:
nämlich, wie man revoluzzt
und dabei doch Lampen putzt.

Der Dichter - Erich Mühsam

Erich Mühsam wurde am 6. April 1878 in Lübeck geboren. 1900 kommt er als Apothekergehilfe nach Berlin, wird zum Leidwesen der Familie freier Schriftsteller, anarchistischer Agitator, Redakteur, Kabarettist und Bohemien (unkonventioneller Künstler). 1902 zieht Erich Mühsam nach Friedrichshagen. 1907 schreibt er sein berühmtestes Gedicht 'Der Revoluzzer', eine Satire auf den Reformismus der SPD. 1909 lässt Mühsam sich in München nieder und gibt ab 1911 eine eigene Zeitschrift 'Kain. Zeitschrift für Menschlichkeit' heraus. Er machte während des Krieges pazifistisch-revolutionäre Propaganda, war führender Kopf in der Bayerischen Revolution 1918 und dann Mitglied der Münchener Räterepublik. Nach deren Sturz wird Mühsam in einem Hochverratsprozess zu 15 Jahren Festungshaft verurteilt, von denen er sechs Jahre verbüsste. Er verfasste während dieser Zeit u.a. das Revolutionsdrama 'Judas', das 1921 in Mannheim seine Uraufführung erlebte.

Als unbeugsamer Revolutionär und Verfasser revolutionärer Lieder war Mühsam zu Beginn der 20er Jahre weit über anarchistische Kreise hinaus in der Arbeiterschaft populär.

Er lebte nun mit seiner Frau Zensl in Berlin. Er setzte sich unermüdlich für politische Gefangene im ganzen Reichsgebiet ein und gab von 1926 bis 1931 erneut eine Zeitschrift 'Fanal' heraus und schrieb 1928 sein Drama 'Staatsräson'.

Mühsam warnte als Redner und Publizist hellsichtig vor dem aufkommenden Faschismus und wurde deshalb noch in der Nacht des Reichstagsbrandes verhaftet und nach einem Leidensweg durch mehrere KZ in der Nacht zum 10. Juli 1934 im KZ Oranienburg ermordet. Seine Frau Zensl emigrierte in die Sowjetunion, überlebte trotz Gefangenschaft die Stalinzeit und starb in den 50er Jahren in der DDR.

Mühsam schrieb gegen Unrecht und Unmenschlichkeit, sowie gegen die Unterdrückung der Frau. Dabei benutzte er vor allem konventionelle Versformen. Seine politischen Gedichte, Liebeslyrik und Satire zeigen einen radikalen, aber auch humorvollen Dichter. Er war ein kompromissloser und weder durch Festungshaft noch KZ beugbarer Kämpfer – ein rebellischer Poet und poetischer Rebell. Er wollte aber gedanklich, nicht formal revolutionär sein.

Interpretation

Ich glaube, Mühsam hat für unseren Arbeiter nicht nur des Reimes wegen den Beruf als Lampenputzer gewählt. Er wollte einen normalen Arbeiter mit wenig Ausbildung. Und zweitens macht ein Lampenputzer die Lampen wieder sauber, damit die Leute besser sehen können – also eigentlich ein wichtiger Beruf.

Nun, mir scheint es so, dass unser Arbeiter keinen richtigen Grund hat, bei dieser Revolution mitzumachen. Er wollte einfach 'dabei' sein. Vielleicht sucht er auch Anerkennung, da er nur ein unbeachteter Lampenputzer ist. [Zeile 5, 6] Er geht im gleichen Tempo, wie die andern, mit.

[Zeile 7] Er will den anderen zeigen, dass er jetzt auch revoluzzt. Damit es alle wissen, schreit er, als ob ER die Revolution selber initiiert hätte: «ICH revolüzze!».

[Zeile 8, 9] Er trägt als äusseres Zeichen eine Mütze und zwar trägt er diese wegen den Sozialdemokraten links.

[Zeile 10] Er meinte nur, er wäre wichtig und gefährlich – war es aber eigentlich nicht.

[Zeilen 11-12] Die Revoluzzer sind mitten auf den Strassen. Sie zeigen und bekennen sich. Sie sind nicht etwa versteckt.

[Zeilen 13-18] Dies ist nun die Enttäuschung; die Revoluzzer nehmen nämlich keine Rücksicht auf unseren Lampenputzer, obwohl er eigentlich treu seinen Dienst tut. Er fühlt sich verraten und beginnt an der Aufrichtigkeit seiner Kollegen zu zweifeln. Mit Gewalt wollen sie die Gaslaternen aus dem Boden herausnehmen, um daraus Barrikaden zu bauen. Es ist gleich, wie sie zum Ziel kommen, Hauptsache: sie kommen. Der Zweck heiligt die Mittel.

[Zeilen 19-21] Die Leute brauchen dieses Licht.

[Zeilen 22-25] Nun beginnt er, selbständig zu denken: Wenn er bei den Revoluzzern weiter mitmacht – also wenn er da hilft, die Laternen auszureissen –, schadet er den Bürgern und natürlich auch sich selbst. So will er seine Genossen daran hindern. Doch diese hören nicht auf ihn und machen, was sie wollen. Darum entscheidet er sich, nicht mehr mitzumachen:

[Zeile 26] Dies ist auch wieder ein Hinweis, dass er die Revolution nicht so ernst nimmt und keinen Grund dafür sieht. Sonst würde er nicht sagen, er spiele nicht mehr mit.

[Zeilen 27-30] Ohne Rücksicht nehmen Sie die Lampen jetzt raus. Für ihn ist jetzt die ganze Welt zusammengebrochen. Er geht leise weg, obwohl ihm die Revolution eigentlich noch gefallen hatte.

[Zeilen 31-34] Zuletzt emanzipiert er sich scheinbar und schreibt eine Anleitung, wie man revoluzzt ohne Schaden zu machen, aber nicht wieso man revoluzzt. Er sieht also noch immer keinen eigentlichen Grund.

Metrik

Das Gedicht besteht aus acht Strophen à vier Versen. Es hat eine einheitliche, einfache Metrik: Es sind alles Paarreime, wobei die ersten zwei Verse innerhalb einer Strophe – mit acht Silben – weibliche, die anderen zwei – mit sieben Silben – eine männliche, stumpfe Kadenz haben. Vom Metrum her sind es alles Trochäen; demnach ist die erste Silbe betont, während die zweite unbetont bleibt; die dritte wieder betont, usw...

Vom Satzbau ist zu sagen, dass es mehrere Enjambements hat, wie z.B.: ... und der Lampenputzer schlich / fort und weinte bitterlich.